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Sexualität und Ergotherapie

Kleine Leseproben aus:

Georg Keller 

Psychosoziale Therapie mit Kindern und Jugendlichen

Ergotherapeutisches Handbuch für Unterricht und Praxis  

 

6.17

Sexuelle Reifungskrisen  

{6.9}, {15.1}, {15.5}, {15.8}, {19}

Für jugendliche Klienten ist Sexualität ein existentiell wichtiges Lebensthema, an dem sie sich bewähren oder auch scheitern können. Eine ganzheitliche Ergotherapie wird sexuelle Probleme ihrer jugendlichen Klienten nicht einfach ignorieren können, sondern - ohne die Privatsphäre zu verletzen - hilfreiche Therapieangebote machen.

Ein wichtiger Aspekt der Selbstfindung im Jugendalter ist die Auseinandersetzung mit den erwachten sexuellen  Bedürfnissen und das Finden der eigenen sexuellen  Identität. Dabei sind die ersten - im weiteren Sinne - sexuellen  Erfahrungen nicht immer alle angenehm. Die gesunde Bewältigung so mancher Enttäuschung ist sogar unbedingt nötig, denn erst durch eine gesunde Bewältigung gelegentlicher nichttraumatischer erotischer Frustrationen  reift ein junger Mensch von der Anspruchshaltung bloßen kindlichen ‚Verliebt-seins’ allmählich zu einer echten einfühlsamen  Liebesfähigkeit heran, die auch dann Stand zu halten vermag, wenn es einmal nicht ‚easy’ sein sollte.

Zwar ist unsere derzeitige Sexualmoral relativ liberal, aber in der oft einseitigen Fun- und leistungsorientierten Konsumgesellschaft finden junge Menschen nicht immer leicht geeignete Vorbilder, wenn es gilt, auch Liebesenttäuschungen gesund zu verarbeiten. Jugendliche können in Identitäts- und Reifungskrisen  geraten, in denen sie manchmal Hilfe benötigen, beispielsweise:

· wenn die eheliche Beziehung der Eltern  eher abschreckendes Vorbild ist.

· wenn in der Pubertät zusammen mit der körperlichen sexuellen  Reife auch zarte, in einer lieblosen Kindheit unbefriedigt gebliebene, frühe Bedürfnisse nach Geborgenheit erwachen und dann noch gar nicht ein Lebenspartner, sondern eigentlich noch die vorsexuelle Geborgenheit bei einer Ersatz-‚Mama’ oder einem Ersatz-‚Papa’ gesucht werden.

· wenn aufgrund einer rigiden, sexualfeindlichen religiösen Erziehung oder aufgrund von Misshandlungen  in der Kindheit, Sexualität nicht ohne Angst - und Schuldgefühle  erlebt werden kann.

· wenn aus Angst, als ‚verklemmt’ ausgelacht zu werden, ‚Liebesbeziehungen’ lediglich oberflächlich-angepasst absolviert, statt tief empfunden werden.

· wenn die Angst, als ‚unnormal’ diskriminiert zu werden, zu Selbstwertproblemen und sozialem Rückzug  führt.

· wenn aufgrund geringer Frustrationstoleranz  Liebesenttäuschungen nur depressiv oder aber aggressiv verarbeitet werden können.

· wenn sexuelle Betätigung zum protzigen Leistungsbeweis wird und der Partner derart zum bloßen Objekt der Selbstdarstellung gemacht wird.

· wenn aufgrund geringer Erlebnistiefe äußere Extreme (‚Kick’) gesucht werden, um überhaupt etwas zu erleben.

· ...

Während bei schwereren Reifungskrisen  Psychotherapie (eventuell auch in Kombination mit Ergotherapie) anzuraten ist, kann bei leichteren Krisen auch Ergotherapie ausreichend sein. - Jeder Therapeut der regelmäßig mit Jugendlichen arbeitet, wird schon des öfteren erlebt haben, dass ein jugendlicher Klient leicht euphorisch oder aber niedergeschlagen zur Therapie gekommen ist, weil er gerade glücklich oder unglücklich verliebt war. Und so kann das Thema Sexualität auch in einer ganzheitlichen ergotherapeutischen Behandlung nicht einfach ausgeklammert werden. Gleichzeitig muss die Privatsphäre des jungendlichen Klienten geachtet werden. Daher empfiehlt sich ein nondirektives Vorgehen: In dem Maße, wie ein jugendlicher Klient spontan Sexuelles thematisiert, kann der Ergotherapeut das in Gesprächen emphatisch begleiten (à 5.5.2). Da Jugendliche einen Therapeuten nicht selten idealisieren oder auch gekränkt abwerten, ist unbedingt therapeutische Abstinenz 1 zu wahren, um eine riskante ‚Achterbahn der Gefühle’ zu vermeiden.

Jedem Ergotherapeuten, der sich mit der sexuellen  Thematik beschäftigt, ist zu empfehlen, einmal eine Sittengeschichte (z.B. Miles 1997) zur Hand zu nehmen, um eine tolerante Einstellung  zu gewinnen. Es kann erschreckend und heilsam sein, sich derart vor Augen zu führen welches sexuelle Verhalten in welcher Kultur hochgeachtet war, oder aber als todeswürdiges Verbrechen galt und teilweise noch immer gilt.2 Ein antiker Gelehrter, der im Tross Alexanders des Großen die unterschiedlichsten Kulturen mit ihren ebenso widersprüchlichen wie rigide sanktionierten Riten, Bräuchen und sozialen Verhaltensnormen studiert hatte, soll - am Ende seines Lebens nach der Summe seines Wissens befragt - gesagt haben: ‚Man möge sich jeglichen moralisierenden Urteils enthalten.’

Ergotherapeutische Initialziele bei sexuellen Störungen können beispielsweise sein:

IZ: Þ Die eigenen (sexuellen ) Gefühle differenziert wahrnehmen und ausdrücken können (, statt Alexithymie und oberflächlicher Scheinanpassung )

IZ: Þ Sich körperlich entspannen  und wohl fühlen (, statt Angst  und Körperfeindlichkeit)

IZ: Þ Entspannt zu den eigenen Gefühlen stehen können (, statt Verleugnung, Scham oder forcierten Aktionen)

IZ: Þ Sich auf vertieftes Gefühlserleben, bzw. Beziehungen einlassen können (, statt oberflächlichem ‚Kitzel’ und promiskuitiver Beziehungslosigkeit)

IZ: Þ Sich selbst besser schützen können (, statt Opferrolle)

IZ: Þ Auch mit anderen einfühlsam  und verantwortungsvoll umgehen (, statt andere lediglich zu benutzen oder alexithym an ihnen vorbei zu leben)

IZ: Þ Gelegentliche Liebesenttäuschungen und Beziehungsstress auch sanft trauernd überwinden können und daran reifen (, statt aggressiver  oder depressiver  Reaktionen)

IZ: Þ Aktiv förderliche Kontakte herstellen (, statt sozialem Rückzug )

Ergotherapeutisch können bei Jugendlichen insbesondere Muskeltiefenentspannung (à 5.4.3) und körperzentriertes Gestalten (à 5.10) helfen, sich im eigenen Körper wohl zu fühlen, die im Körpererleben verwurzelten Gefühle besser wahrzunehmen und differenziert und kreativ auszudrücken und letztlich auch (Beziehungs-)Stress entspannter  zu verarbeiten. Das alles ist wichtig, damit der jugendliche Klient schließlich im Alltag selbst herausfinden kann, was ihm entspricht und was er selbst jenseits von Überangepasstheit  oder egozentrischer Affektiertheit wirklich braucht und einfühlsam leben möchte. Auch Hobbyfindung, Freizeitgestaltung  und eigenverantwortliche Lebensführung (à 5.8) können in therapeutischen Gesprächen (à 5.5.2) oder auch in Gruppentherapie (à 4.3) zum Beispiel in einer Gruppendiskussion  (à 5.6) thematisiert werden. Dabei können u.a. die Aufklärungsschriften der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung als Gesprächs- oder Diskussionseinstieg dienen. Je nach Einzelfall kann zudem an aggressionsabbauende Maßnahmen (à 5.1), Trauerverarbeitung (à 5.22), therapeutische Geschichten  (à 5.20) und anderes mehr gedacht werden. In schwereren Fällen können sexuelle Probleme nicht zuletzt mit Angststörungen (à 6.4), Depression (à 6.6), psychosomatischen Beschwerden (à 6.13), Selbstwertproblemen (à 6.17) und schließlich sogar mit Suizidalität (à 6.19) einhergehen.

J

Mein Verhältnis zur schönen französischen Sprache ist genau das gleiche wie das zu meiner Frau: ich kennen sie, ich liebe sie, aber ich beherrsche sie nicht.   (Zitiert nach: Tange 1997, S.57)  

 

J

Neulich soll es einem Exhibitionisten, der wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht stand gelungen sein, sich auch während der Gerichtsverhandlung blitzschnell zu entblößen. Die Staatsanwältin habe nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen und dann sogleich beantragt, das Verfahren wegen ‘Geringfügigkeit’  einzustellen.  

 

3?

1.) Warum sind gelegentliche, gesund verarbeitete, erotische Frustrationen notwendig?  

2.) Wann können Jugendliche in Reifungskrisen geraten, in denen sie Hilfe bekommen sollten?

3.) Was sollte man ergotherapeutisch beachten, wenn man das Thema Sexualität in einer ergotherapeutischen Behandlung nicht einfach ausklammern möchte?

4.) Was kann einem Ergotherapeuten helfen, in sexuellen Fragen mehr Toleranz zu entwickeln?

5.) Nennen sie einige häufig geeignete egotherapeutische Initialziele bei sexuellen Reifungskrisen .

6.) Welche ergotherapeutischen Behandlungsangebote kommen in engere Auswahl?

?

7.) Fallen ihnen weitere Belastungen ein, die dazu führen können, dass bei einem Jugendlichen die Entdeckung der Sexualität krisenhaft verlaufen kann? 8.) Unser Kulturkreis ist stark durch das Christentum geprägt. Findet sich in der Bibel eine Episode in der Jesus (als menschgewordener Sohn Gottes) oder einer seiner Apostel in vorbildlicher Weise mit Liebeskummer fertig wird? Oder wird dieses Phänomen menschlicher Existenz dort weitestgehend ausgeklammert?

Ü

Erkunden sie mittels Internetrecherche (www.bzga.de) oder per Anschreiben, welche Informationsmaterialien zur Sexualaufklärung über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in 51101 Köln bezogen werden können.

N

Achten sie bei Gelegenheit einmal darauf, was Jugendliche machen, wenn sie Liebeskummer haben, und wo sie dann soziale Vorbilder finden, die ihnen helfen, ihre Situation mehr oder weniger angemessen zu bewältigen?

&

Miles, C., Norwich, J. J. (1997). Liebe in der Antike. Köln: vgs Verlagsgesellschaft

 


Literaturhinweise zu den obigen Leseproben:

1.) Der Begriff ‚therapeutisch Abstinenz’ besagt, dass ein Therapeut mit einem Patienten keine Liebesbeziehung eingehen darf.

2.) Von den Hethitern (im Zweistromland) beispielsweise ist folgender Gesetzestext in Keilschrift überliefert:

„Wenn ein Mann einer Frau in den Bergen beischläft, die nicht sein Weib ist, soll er mit dem Tod bestraft werden.

Wenn ein Mann einem Stück Vieh beischläft, so soll er mit dem Tod bestraft werden.

Wenn ein Mann einem Schaf beischläft, so soll er mit dem Tod bestraft werden.

Wenn ein Mann einem Schwein beischläft, so soll er mit dem Tod bestraft werden.

Wenn ein Mann einem Pferd oder Maulesel beischläft, so soll er keine [!] Strafe erleiden.“ 

(aus: Miles, C., Norwich, J. J. (1997). Liebe in der Antike. Köln: vgs Verlagsgesellschaft, S.26)

   


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