Sexualität und Ergotherapie |
Psychosoziale Therapie mit Kindern und Jugendlichen
Ergotherapeutisches Handbuch für Unterricht und Praxis
Sexuelle
Reifungskrisen
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{6.9}, {15.1},
{15.5}, {15.8}, {19}
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Für jugendliche Klienten ist Sexualität ein
existentiell wichtiges Lebensthema, an dem sie sich bewähren oder auch
scheitern können. Eine ganzheitliche Ergotherapie wird sexuelle Probleme
ihrer jugendlichen Klienten nicht einfach ignorieren können, sondern -
ohne die Privatsphäre zu verletzen - hilfreiche Therapieangebote machen. |
Ein wichtiger Aspekt der Selbstfindung im Jugendalter
ist die Auseinandersetzung mit den erwachten sexuellen
Bedürfnissen und das
Finden der eigenen sexuellen Identität. Dabei sind die ersten - im weiteren Sinne -
sexuellen
Erfahrungen nicht immer
alle angenehm. Die gesunde Bewältigung so mancher Enttäuschung ist sogar
unbedingt nötig, denn erst durch eine gesunde Bewältigung gelegentlicher
nichttraumatischer erotischer Frustrationen
reift ein junger Mensch von
der Anspruchshaltung bloßen kindlichen ‚Verliebt-seins’
allmählich zu einer echten einfühlsamen
Liebesfähigkeit heran, die
auch dann Stand zu halten vermag, wenn es einmal nicht ‚easy’ sein
sollte.
Zwar ist unsere derzeitige Sexualmoral relativ
liberal, aber in der oft einseitigen Fun- und leistungsorientierten
Konsumgesellschaft finden junge Menschen nicht immer leicht geeignete Vorbilder,
wenn es gilt, auch Liebesenttäuschungen gesund zu verarbeiten. Jugendliche können
in Identitäts- und Reifungskrisen
geraten, in denen sie
manchmal Hilfe benötigen, beispielsweise:
· wenn
die eheliche Beziehung der Eltern
eher abschreckendes Vorbild
ist.
· wenn
in der Pubertät zusammen mit der körperlichen sexuellen
Reife auch zarte, in einer
lieblosen Kindheit unbefriedigt gebliebene, frühe Bedürfnisse nach
Geborgenheit erwachen und dann noch gar nicht ein Lebenspartner, sondern
eigentlich noch die vorsexuelle Geborgenheit bei einer Ersatz-‚Mama’ oder
einem Ersatz-‚Papa’ gesucht werden.
· wenn
aufgrund einer rigiden, sexualfeindlichen religiösen Erziehung oder aufgrund
von Misshandlungen
in der Kindheit, Sexualität
nicht ohne Angst
- und Schuldgefühle
erlebt werden kann.
· wenn
aus Angst, als ‚verklemmt’ ausgelacht
zu werden, ‚Liebesbeziehungen’ lediglich oberflächlich-angepasst
absolviert, statt tief empfunden werden.
· wenn
die Angst, als ‚unnormal’ diskriminiert zu werden, zu
Selbstwertproblemen und sozialem Rückzug
führt.
· wenn
aufgrund geringer Frustrationstoleranz
Liebesenttäuschungen nur
depressiv
oder aber aggressiv
verarbeitet werden können.
· wenn
sexuelle Betätigung zum protzigen Leistungsbeweis wird und der Partner derart
zum bloßen Objekt der Selbstdarstellung gemacht wird.
· wenn
aufgrund geringer Erlebnistiefe äußere Extreme (‚Kick’)
gesucht werden, um überhaupt etwas zu erleben.
· ...
Während bei schwereren Reifungskrisen
Psychotherapie (eventuell
auch in Kombination mit Ergotherapie) anzuraten ist, kann bei leichteren Krisen
auch Ergotherapie ausreichend sein. - Jeder Therapeut der regelmäßig mit
Jugendlichen arbeitet, wird schon des öfteren erlebt haben, dass ein
jugendlicher Klient leicht euphorisch oder aber niedergeschlagen zur Therapie
gekommen ist, weil er gerade glücklich oder unglücklich verliebt war. Und so
kann das Thema Sexualität auch in einer ganzheitlichen ergotherapeutischen
Behandlung nicht einfach ausgeklammert werden. Gleichzeitig muss die Privatsphäre
des jungendlichen Klienten geachtet werden. Daher empfiehlt sich ein
nondirektives Vorgehen: In dem Maße, wie ein jugendlicher Klient spontan
Sexuelles thematisiert, kann der Ergotherapeut das in Gesprächen emphatisch
begleiten (à 5.5.2). Da Jugendliche einen Therapeuten
nicht selten idealisieren oder auch gekränkt abwerten, ist unbedingt
therapeutische Abstinenz 1 zu wahren, um eine riskante ‚Achterbahn der Gefühle’ zu vermeiden.
Jedem Ergotherapeuten, der sich mit der sexuellen
Thematik beschäftigt, ist
zu empfehlen, einmal eine Sittengeschichte (z.B. Miles 1997) zur Hand zu nehmen,
um eine tolerante Einstellung
zu gewinnen. Es kann
erschreckend und heilsam sein, sich derart vor Augen zu führen welches sexuelle
Verhalten in welcher Kultur hochgeachtet war, oder aber als todeswürdiges
Verbrechen galt und teilweise noch immer gilt.2 Ein antiker Gelehrter, der im Tross Alexanders des Großen die
unterschiedlichsten Kulturen mit ihren ebenso widersprüchlichen wie rigide
sanktionierten Riten, Bräuchen und sozialen Verhaltensnormen studiert hatte,
soll - am Ende seines Lebens nach der Summe seines Wissens befragt - gesagt
haben: ‚Man möge sich jeglichen
moralisierenden Urteils enthalten.’
Ergotherapeutische Initialziele
bei sexuellen Störungen können
beispielsweise sein:
IZ: Þ Die
eigenen (sexuellen
) Gefühle differenziert wahrnehmen und ausdrücken können
(, statt Alexithymie und oberflächlicher Scheinanpassung
)
IZ: Þ Sich
körperlich entspannen
und wohl fühlen (, statt Angst
und Körperfeindlichkeit)
IZ: Þ Entspannt
zu den eigenen Gefühlen stehen können (, statt Verleugnung, Scham oder
forcierten Aktionen)
IZ: Þ Sich
auf vertieftes Gefühlserleben, bzw. Beziehungen einlassen können (, statt
oberflächlichem ‚Kitzel’ und promiskuitiver Beziehungslosigkeit)
IZ: Þ Sich
selbst besser schützen können (, statt Opferrolle)
IZ: Þ Auch
mit anderen einfühlsam
und
verantwortungsvoll umgehen (, statt andere lediglich zu benutzen oder alexithym
an ihnen vorbei zu leben)
IZ: Þ Gelegentliche
Liebesenttäuschungen und Beziehungsstress auch sanft trauernd überwinden können
und daran reifen (, statt aggressiver
oder
depressiver
Reaktionen)
IZ: Þ Aktiv
förderliche Kontakte herstellen (, statt sozialem Rückzug
)
Ergotherapeutisch können bei Jugendlichen
insbesondere Muskeltiefenentspannung
(à 5.4.3) und körperzentriertes Gestalten (à 5.10) helfen, sich im eigenen Körper wohl zu fühlen, die im Körpererleben
verwurzelten Gefühle besser wahrzunehmen und differenziert und kreativ auszudrücken
und letztlich auch (Beziehungs-)Stress entspannter
zu verarbeiten. Das alles
ist wichtig, damit der jugendliche Klient schließlich im Alltag selbst
herausfinden kann, was ihm entspricht und was er selbst jenseits von Überangepasstheit
oder egozentrischer
Affektiertheit wirklich braucht und einfühlsam leben möchte. Auch
Hobbyfindung, Freizeitgestaltung
und eigenverantwortliche Lebensführung
(à 5.8) können in therapeutischen Gesprächen (à 5.5.2) oder auch in Gruppentherapie
(à 4.3) zum Beispiel in einer Gruppendiskussion
(à 5.6) thematisiert werden. Dabei können u.a. die Aufklärungsschriften
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung als Gesprächs- oder
Diskussionseinstieg dienen. Je nach Einzelfall kann zudem an
aggressionsabbauende Maßnahmen (à
5.1), Trauerverarbeitung
(à 5.22), therapeutische Geschichten
(à 5.20) und anderes mehr gedacht werden. In schwereren Fällen können
sexuelle Probleme nicht zuletzt mit Angststörungen
(à 6.4), Depression
(à
6.6), psychosomatischen
Beschwerden (à 6.13), Selbstwertproblemen (à 6.17) und schließlich sogar mit Suizidalität
(à 6.19) einhergehen.
J |
Mein Verhältnis zur schönen französischen
Sprache ist genau das gleiche wie das zu meiner Frau: ich kennen sie, ich
liebe sie, aber ich beherrsche sie nicht.
(Zitiert nach: Tange 1997, S.57)
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J |
Neulich soll es einem Exhibitionisten, der wegen
Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht stand gelungen sein, sich
auch während der Gerichtsverhandlung blitzschnell zu entblößen. Die
Staatsanwältin habe nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen und dann
sogleich beantragt, das Verfahren wegen ‘Geringfügigkeit’
einzustellen.
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3? |
1.) Warum sind gelegentliche, gesund
verarbeitete, erotische Frustrationen notwendig? 2.) Wann können Jugendliche in Reifungskrisen
geraten,
in denen sie Hilfe bekommen sollten? 3.) Was sollte man ergotherapeutisch beachten,
wenn man das Thema Sexualität in einer ergotherapeutischen Behandlung
nicht einfach ausklammern möchte? 4.) Was kann einem Ergotherapeuten helfen, in
sexuellen
Fragen mehr Toleranz zu entwickeln? 5.) Nennen sie einige häufig geeignete
egotherapeutische Initialziele
bei
sexuellen
Reifungskrisen
. 6.) Welche ergotherapeutischen
Behandlungsangebote kommen in engere Auswahl? |
? |
7.) Fallen ihnen weitere Belastungen ein, die
dazu führen können, dass bei einem Jugendlichen die Entdeckung der
Sexualität krisenhaft verlaufen kann? |
Ü |
Erkunden sie mittels Internetrecherche (www.bzga.de)
oder per Anschreiben, welche Informationsmaterialien zur Sexualaufklärung
über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in 51101
Köln bezogen werden können. |
N |
Achten sie bei Gelegenheit einmal darauf, was
Jugendliche machen, wenn sie Liebeskummer haben, und wo sie dann soziale
Vorbilder finden, die ihnen helfen, ihre Situation mehr oder weniger
angemessen zu bewältigen? |
& |
Miles,
C., Norwich, J. J. (1997). Liebe
in der Antike. Köln:
vgs Verlagsgesellschaft |
1.) Der Begriff ‚therapeutisch Abstinenz’ besagt, dass ein Therapeut mit einem Patienten keine Liebesbeziehung eingehen darf.
2.) Von den Hethitern (im Zweistromland) beispielsweise ist folgender Gesetzestext in Keilschrift überliefert:
„Wenn
ein Mann einer Frau in den Bergen beischläft, die nicht sein Weib ist, soll
er mit dem Tod bestraft werden.
Wenn
ein Mann einem Stück Vieh beischläft, so soll er mit dem Tod bestraft
werden.
Wenn
ein Mann einem Schaf beischläft, so soll er mit dem Tod bestraft werden.
Wenn
ein Mann einem Schwein beischläft, so soll er mit dem Tod bestraft werden.
Wenn ein Mann einem Pferd oder Maulesel beischläft, so soll er keine [!] Strafe erleiden.“
(aus: Miles, C., Norwich, J. J. (1997). Liebe in der Antike. Köln: vgs Verlagsgesellschaft, S.26)
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