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Ergotherapie mit geistig behinderten Menschen

Kleine Leseproben aus:

Georg Keller 

Psychosoziale Therapie mit Kindern und Jugendlichen

Ergotherapeutisches Handbuch für Unterricht und Praxis  

  

6.11

Geistige Behinderung

{6.9}, {11.5}, {15.1}, {15.5}, {15.8}, {19}

Geistig behinderte Menschen zeigen häufig auch psychosoziale Verhaltensauffälligkeiten. Zudem sind sie auch im Erwachsenenalter noch an kindliche Erlebens- und Ausdrucksweisen gebunden. Da Ergotherapeuten einen wichtigen therapeutische Beitrag zur Förderung der alltagsbezogenen Handlungskompetenz geistig behinderter Menschen leisten können, hier einige grundlegende Informationen.

Bei der geistigen Behinderung  handelt es sich um eine angeborene, oder früh erworbene, Intelligenzminderung die zumeist auch mit beschränkten Möglichkeiten zur sozialen Anpassung einher geht. „Als geistig behindert  gilt, wer infolge einer organischen Schädigung (des Gehirns) trotz optimaler Erziehungsbemühungen in seiner Lernfähigkeit und seiner psychischen Gesamtentwicklung so schwer beeinträchtigt ist, daß er voraussichtlich lebenslanger Hilfe bedarf. Die Beeinträchtigungen umfassen auch immer den sprachlichen, emotionalen und motorischen Bereich.“ (Ilse 1984, S.109)1

Da es sich bei der Behinderung um eine bleibende Störung handelt, kann eine völlige Normalisierung nicht das therapeutische Ziel sein. Vielmehr gilt es, den geistig behinderten Menschen zunächst einmal so zu akzeptieren wie er ist. Gleichzeitig verfügen geistig behinderte Menschen über Entwicklungspotentiale, die es zu entfalten und auch im Sinne sozial befriedigenderen Verhaltens zu optimieren gilt.  

Während in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch viele geistig Behinderte auf psychiatrischen Langzeitstationen untergebracht waren, ist es insbesondere durch den Ausbau eines dichten Netzes von Werkstätten für Behinderte, Tagesstätten und Heimen möglich geworden die überwiegende Mehrzahl geistig behinderter Menschen gemeindenah zu integrieren und zu fördern.

Auf Grund der sehr unterschiedlichen Ausprägungsgerade geistiger Behinderung, unterschiedlicher individueller Ressourcen, unterschiedlicher sozialer Anforderungen und zusätzlichen Störungen von Antriebssteigerung und Distanzlosigkeit/Rückzugstendenzen bis hin zur Mehrfachbehinderung mit Zusatzdiagnosen wie beispielsweise Autismus oder Pfropfpsychose, können - je nach individuellem Befund und Zielsetzung - ganz unterschiedliche ergotherapeutische Maßnahmen angezeigt sein. Explizite genannt seien hier wenigstens Sensorische Integrationstherapie (à 5.17), Motopädie (à 5.14), Snoezelen (à 5.18), Massagen (à 5.11), Entspannungsverfahren (à 5.4), therapeutische Märchen  und Geschichten (à 5.20) und selbstverständlich lebenspraktisches ADL-Training.

Da geistig behinderte Menschen zeit Lebens an eine kindlichen Erlebens- und Ausdrucksweise gebunden bleiben, haben viele von ihnen eine erstaunliche künstlerische Begabung, die auch durch Ergotherapeuten gefördert werden kann. (à 5.10 körperzentriertes Gestalten, à 5.2 bildnerisches Gestalten)

Im Folgenden einige grundlegende Hinweise zum therapeutischen Vorgehen bei geistig behinderten Menschen:  

· Die sprachlichen Mitteilungen des Therapeuten müssen, um vom behinderten  Menschen intellektuell überhaupt verstanden werden zu können, einfach und im Wortschatz angepasst sein. Auch 1-Wort-Sätze, wie „Gut!“ (zur unmittelbaren Verstärkung) oder „Stop!“ (bei Gefahrenquellen...) können sehr hilfreich sein. Durch ausdrucksstarke Mimik und klare Gesten kann der Therapeut die Verständlichkeit seiner Botschaften und die Aufmerksamkeit des geistig Behinderten zusätzlich steigern.

· Da geistig behinderte Menschen Gefahren oft nur schlecht einschätzen können, muss der Therapeut in besonderer Weise Unfallquellen minimieren und das Gefahrenbewusstsein dieser Klienten entwickeln helfen.

· Geistig behinderte Menschen lernen vor allem durch Imitation. Dem Handeln des Therapeuten kommt daher Vorbildcharakter zu.

· Da das Denken geistig behinderter Menschen anschaulich-konkret ist, müssen neu zu lernende Handlungsabläufe in kurzen Sequenzen anschaulich demonstriert werden, wobei störende Ablenkungen möglichst gering gehalten werden sollten. Es ist häufig sinnvoll beim Training neu zu lernender Handlungsabläufe mit der letzten Sequenz zu beginnen und erst, sobald diese vom Behinderten sicher beherrscht wird, die vorletzte Sequenz dazu zu nehmen, usw. bis zur ersten Sequenz. Beherrscht er die vorletzte Sequenz, kann er so automatisch die bereits gelernte letzte Sequenz anschließen, was sich motivierend auswirkt. (Beginnt man statt dessen mit der ersten Sequenz, dann besteht die Gefahr, das der Behinderte  weiter machen will, sich dabei aber verheddert und das Interesse an der Tätigkeit verliert oder in der Arbeitstherapie Ausschuss produziert.) - Häufige Wiederholungen helfen Lernfortschritte zu stabilisieren.

· Die Methode der ‘Geführten Hände’ (Affolter) kann durch ein basales, sinnenhaftes Begreifen, Motivation und Auffassung wesentlich verbessern helfen.

· Das, was ein geistig behinderter Mensch bereits eigenständig kann, sollte man ihn auch selbstständig machen lassen, statt es ‘rasch für ihn’ zu machen.

· Geistig behinderte Menschen mögen Rituale (gleichbleibende und daher vertraute Abläufe). Positive Verhaltensweisen lassen sich ggf. durch Einbau in Rituale festigen.

· Geistig behinderte Menschen reagieren (ähnlich wie kleine Kinder) stärker denn auf verbale Mitteilungen auf nonverbale Kommunikation, wie Mimik, Gestik, Sprachmelodie, emotionale Zuwendung, körperliche Nähe. Gewünschte Verhaltensweisen lassen sich deshalb besonders durch nonverbale Botschaften, wie freundlich nickenden Blickkontakt oder Hand-auf-seine-Schulter-legen verstärken.

· Damit ein geistig behinderter Mensch den Zusammenhang zwischen seinem erwünschtem Verhalten und der folgenden Belohnung überhaupt begreifen kann, ist anfangs eine unmittelbare Verstärkung erforderlich. Wird ein erwünschtes Verhalten daraufhin öfter gezeigt, verstärkt es sich im Weiteren oft auch zunehmend von alleine, z.B. weil das neue Verhalten auch vom behinderten Menschen als befriedigend erlebt wird (intrinsische Motivation) oder weil es ihm nun auch zu anderen Mitmenschen befriedigendere Sozialkontakte ermöglicht (soziale Verstärkung).

· Zum Aufbau neuer therapeutisch erwünschter Verhaltensweisen können auch materielle Verstärker wie beispielsweise (zuckerfreie, zahnfreundliche!) Bonbons verwendet werden, oder auch Token, wie beispielsweise Smiley-Gutscheine (à 5.12).

· Positive Verstärkung/Zuwendung ist wesentlich wirksamer als Bestrafung, welche die Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung untergraben und gelegentlich auch schwer kontrollierbare Trotzreaktionen provozieren kann. Zudem ist ein strafender Therapeut kein gutes Verhaltensmodell. Zumeist lassen sich unerwünschte Verhaltensweisen durch Nichtbeachtung in Kombination mit Verstärkung positiver Verhaltensansätze überwinden.

· Stereotypien, wie z.B. monotones Schaukeln des Oberkörpers findet man bei geistig behinderten Menschen keineswegs selten. Man sollte nicht versuchen, diese selbststimulierenden Verhaltensweisen zu unterdrücken, sondern sie vielmehr als Hinweis darauf sehen, dass hier vestibulär stimulierende und basale (sensorisch integrierende) ganzheitliche Therapieangebote sinnvoll sind.

· Die impulsive körperliche Distanzlosigkeit vieler geistig behinderter Menschen kann zum Problem werden. Hier ist es dann erforderlich klar und deutlich Grenzen zu signalisieren und konsequent auf deren Einhaltung zu bestehen.

· Viele geistig behinderte Menschen können ihre impulsiven Unmutsgefühle schlecht steuern; manche sind hyperaktiv. Beruhigend wirken hier (mit großen individuellen Unterschieden!) häufig z.B.:

- ruhiges Sprechen, Körperkontakt, sanftes Wiegen

- das (gemeinsame) Singen eines Lieblingsliedes

- einfache Tätigkeiten mit basal stimulierenden (Natur-)Materialien (z.B. Moose, Baumrinden, Steine, Sand, Wasser, Ton )

- entspannende  Hintergrundmusik mit Naturgeräuschen

- Nichtbeachtung (= ‚Löschen’) von harmloseren ‚Faxen’

- Abreagieren des gesteigerten Bewegungsdranges, z.B. durch rhythmische  Hände-Klatsch-Spiele oder Sich-Auslaufen (abreagieren) im Freien auf der Wiese.

- Snoezelen (à 5.18)

· Es kann auch vorkommen, dass ein geistig behinderter Mensch Grenzen austestet und sich beispielsweise demonstrativ in Szene setzt, um uneinsichtig etwas durchzusetzen, was er sich gerade in seinen Kopf gesetzt hat. Hier ist konsequentes Verhalten wichtig und zwar ggf. auch vom ganzen therapeutischen Team. Geistig behinderte Menschen  können durch ungleichen Erziehungsstil unterschiedlicher Therapeuten genauso verzogen werden, wie Kinder deren Eltern sich teils nachgiebig-verwöhnend und andernteils überstreng verhalten.

 

Abb. 66: Mandalaförmiger großer Smiley aus Handabdrücken (Fingerfarben)

Das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl und freundliche Miteinander von geistig behinderten  Menschen (beispielsweise in der Arbeitsgruppe einer Werkstatt für Behinderte) lässt sich durch das gemeinsame Gestalten eines Kreises aus Handabdrücken eines jeden Gruppenmitgliedes mit Fingerfarben fördern. (Siehe Abb. 66) Der Hände-Kreis schafft einen persönlichen Bezug eines jeden zu der Gestaltung, die sich leicht zu einem großen Smiley vervollständigen und für alle gut sichtbar aufhängen lässt. Der Anleiter kann den geistig Behinderten  dazu mit einfachen, verständlichen Worten erklären, dass der Smiley sich freut, weil alle gemeinsam zum Gelingen mit beitragen. Sozial erwünschtes freundliches Verhalten lässt sich dann im Weiteren auch durch Hinweis auf die Gestaltung an der Wand oder auch gezielt durch kleine Smiley-Token  (à 5.12) weiter verstärken.

1.) Definieren sie was man unter geistig behindert versteht!

2.) Warum findet man heutzutage nur noch wenige geistig behinderte Menschen in psychiatrischen Kliniken?

3.a) Warum können bei geistig behinderten Menschen individuell ganz unterschiedliche ergotherapeutischen Maßnahmen angezeigt sein?

3.b) Nennen sie einige häufig indizierte Maßnahmen.

4.) Wie sollte die sprachliche Kommunikation vom Therapeuten sinnvoller Weise gestaltet werden?

5.) Können geistig behinderte Menschen Gefahren klar einschätzen?

6.) Wie kann man komplexe Handlungsabläufe vermitteln?

7.) Wie lassen sich bei geistig behinderten Menschen erwünschte Verhaltensweisen verstärken?

8.) Wie kann man bei unerwünschten Verhaltensweisen therapeutisch reagieren?

9.) Wie kann man auf geistig behinderte Menschen beruhigend einwirken?

10.) Wie könnte man therapeutisch intervenieren, wenn ein geistig behinderter Mensch Grenzen austestet, indem er andere geistig behinderte schubst?

11.) Was halten sie von Süßigkeiten (Bonbons, Schokolade) als Mittel zur Verstärkung erwünschten Verhaltens?

12.) Wie lässt sich ein deutlich ‚ungleicher Erziehungsstil unterschiedlicher Therapeuten einer Einrichtung eventuell aneinander angleichen?

· DVE [Hrsg.] (1997): Tätigkeitsfeld Ergotherapie in der Arbeit mit geistig Behinderten - Informationsschrift des deutschen Verbandes der Ergotherapeuten; Karlsbad

· Kläger, Max (1992). KRAMPUS: Die Bilderwelt des Willibald Lassenberger - Ein behinderter Künstler in der evangelischen Stiftung de La Tour. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren

 


Literaturhinweise zu den obigen Leseproben:

1.) Ilse, Peter (1984). Einführung in die Pädagogik mit Sonderpädagogik - Ein Studienbuch für Berufe im Gesundheitswesen. München: Bartenschlager

 

 


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